Bremer Freimarkt – Impressionen zwischen Retro und Moderne

Bremen hat mehr zu bieten als man denkt. Neben Stadtmusikanten, Dom und Schnoor gibt es ja noch die „Fünfte Jahreszeit“. Zwei Wochen Freimarkt im Oktober, seit fast 1000 Jahren. „Ischa Freimaak!“, wie der Bremer sagt. Anfangs um den Dom herum und seit gut 80 Jahren auf der Bremer Bürgerweide. In diesem Jahr ist es zum neunhundertneunundsiebzigsten Mal soweit. Auch wenn der Name kostenlosen Spaß suggeriert, ist natürlich nur der Eintritt zum Festplatz frei. Das Volksfest hat seinen Ursprung im Mittelalter, als Kaufleute ihre Waren zum „Freimarkt“ ohne Einmischung der Zünfte feilbieten durften. Zu jener Zeit war er noch ein reiner Warenmarkt, erst viel später wurde er zum Jahrmarkt. Im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre wurden dann Gaukler, Quacksalber und Spielleute immer mehr durch Wurstbuden und Karusselle ersetzt.

Bremer Freimarkt

Bremer Freimarkt – Karl-Heinz Sengstake, offizielles Maskottchen von 1985 bis 1993

Im Mittelalter gingen die Uhren anders. Da erfreute man sich noch an Gewürzen, Stoffen und etwas Exotik, was man im Alltag so nicht fand und dann zur Herbstzeit auf dem Bremer Marktplatz präsentiert bekam, wenn die Wandersleute mit ihren Waren kamen. Dort wurden neben Gütern und Gaukelei auch gerne dressierte Raubtiere oder Kuriositäten wie der „Löwenmensch“ ausgestellt. Eben alles, womit man unsere Vorfahren vor fünfhundert Jahren begeistern konnte. Und heute niemanden mehr hinterm Ofen hervorlocken könnte. Vor 200 Jahren wandelte sich das Bild dann langsam vom Warenmarkt zum Jahrmarkt, so wie wir ihn heute kennen. Die ersten einfachen Karusselle und Attraktionen wie der „Hau den Lukas“ begeisterten das Volk. Knapp hundert Jahre später kam die erste „Berg- und Talfahrt“ hinzu und beliebte Leckereien wie Honig- und Schmalzkuchen erfreuten die Kinder.

Will man als Anachronist etwas mittelalterliches Flair schnuppern und den Markt in seiner ursprünglichen Form erleben, existiert seit 1985 parallel zum Freimarkt auf der Bürgerweide der Historische Markt rund um die Marktkirche am Rathaus. Handwerker zeigen ihre Kunst von damals und man findet neben Kleinod und Gewürzen auch Gaumenfreuden wie Roggenbrottaschen und heißen Met. Garniert wird das bunte Treiben dann von mittelalterlich angehauchten Musikanten. Als Kind fand ich sowas eher langweilig. Gleichzeitig haben mich aber die fremden Gerüche und zotteligen Spielleute mit ihrer archaischen Sprache fasziniert. Bevor es dann weiter zu den reizvolleren Karussells auf der Bürgerweide ging. Heute ist es umgekehrt. Da sehe ich kaum noch Sinn darin, für fünf Euro zwei Minuten durch die Luft gewirbelt zu werden. So wie ich den gesamten Freimarkt mit gemischten Gefühlen betrachte. Aber dazu später mehr.

Freimarkt in den Achtzigern – in der Kindheit das Ereignis schlechthin

Vor über dreißig Jahren war der Freimarkt noch um einiges größer als heute. Mitten auf der Bürgerweide stand zwar zwischenzeitlich eine plumpe Eislaufhalle, die längst abgerissen ist, aber dafür waren in Richtung Bürgerpark die Randzonen noch unbebaut und nicht mit seelenlosen Messehallen und Kongresszentren zugepflastert. Dort, wo früher Bierzelte und Achterbahnen standen. Und noch eine ganze Reihe an Buden, die in Richtung Findorff den Freimarkt sauber einrahmten und einen angemessen empfingen. Ging es mit den Großeltern zum Freimarkt, wurde auf Sauber- und Adäquatheit noch großen Wert gelegt. Das fing schon bei der Wahl der passenden Kleidung an. Man ging schließlich zum Freimarkt und nicht in irgendeine Eckkneipe, wo der Schmierlappen von schräg gegenüber herumlungerte.

Für mich war die Etikette nicht so relevant. Wichtig war, dass ich jedes Fahrgeschäft einmal mitnehmen musste. Auch wenn die Großeltern mir stets das viele Geld vorhielten, das ich jedes Mal verpulvert hatte. Dazu muss erwähnt werden, dass man damals für zwei Mark fünfzig schon die meisten Fahrgeschäfte besteigen konnte. Und hatte man sich in der Tageszeitung die begehrten Gutscheine ausgeschnitten, kostete es nur die Hälfte. Mit einem Zwanziger kam mal also ziemlich weit. Neben Achterbahn, Autoskooter und Kettenkarussell gehörte stets eine große Portion Sahneeis, Schmalzkuchen, Pferdewurst mit Senf, ein Stück Pizza und Pommes dazu, was mein Magen alles locker stemmte. Auch wenn es direkt danach in den brandneuen „Break Dancer“ (1985) ging, wo Oma mich zur Sicherheit bei der ersten Fahrt begleiten wollte. Und es schnell bereute. Nicht nur, weil der Flegel in der Kabine über Lautsprecher eine extraschnelle Runde für die „Disko-Oma“ angekündigt hatte.

Erinnerung an damals – als vieles noch gemächlicher zuging

Wenn ich die alten Fahrgeschäfte mit denen von heute vergleiche, fällt schon eine gewisse Entspanntheit auf, die man so immer weniger findet. Bis auf den „Break Dancer“ gab es eigentlich kaum ein Fahrgeschäft mit Kotzgarantie für empfindliche Mägen. Viele Karusselle waren sogar enorm chillig, da saß man beispielsweise im „Sky Rider“ (1984) und konnte per Steuerknüppel die Gondel selbständig nach oben schwingen lassen. Oder fuhr in der „Fantastische Reise“ (1987) geruhsam an einer hängenden Gondel baumelnd durch eine Abenteuerwelt. Selbst die Achterbahn „Himalaya“ (1983) kam ohne Überschlag aus und wurde erst 1986 durch den „Thriller“ mit Loopings ersetzt. Und dann war da noch die laut ratternde Uralt-Achterbahn mit dem simplen Namen „Super 8“ (1966), wo die Gondeln wie Straßenkreuzer der Fünfziger ausschauten. Das mit Abstand chilligste Fahrgeschäft war der „Condor“ (1985), wo man in 34 Metern Höhe wie ein Vogel gleitete und nicht einmal einen Sicherheitsbügel hatte.

Die beiden Geisterbahnen auf dem Freimarkt waren ebenfalls mehr ulkig als furchteinflößend. Die „Geisterschlange“ (1979) war so langsam, dass man während der Fahrt hätte locker aussteigen können. Die dreistöckige „Geisterschlucht“ (1982) war da schon etwas flotter unterwegs und hatte drehbare gelbe Gondeln, die wie Muscheln geformt waren. Von außen vermittelte sie den Eindruck einer mittelalterlichen Burgfassade, wo ein großer dreiköpfiger Drache herauslugte. Ende der Achtziger wurde dann ein riesiger Affe als Maskottchen vor die Bahn gestellt und man dekorierte drinnen für mehr Gänsehaut so einiges um. Die blutigen Folterbänke und abgehackten Gummiköpfe mussten laut Anordnung von übereifrigen Jugendschützern später allerdings mit weißen Tüchern abgedeckt werden. Was der Fahrt eine noch bizarrere Note gab.

Mit den Neunzigern verschwand so langsam die Entschleunigung und die moderneren Fahrgeschäfte versprachen einen statt Loslösung lieber den brachialen Kick. Eine dieser transportablen Höllenmaschinen mit Loopinggondeln war der „Commander“, der seine Premiere 1993 auf dem Freimarkt hatte. Wie könnte ich diese Zeit vergessen – zählt sie für mich zu den Momenten, die man wahrscheinlich nur einmal im Leben hat. Hintergrund war, dass sich unser Englisch-Leistungskurs auf dem Freimarkt versammelt hatte. Darunter auch ein Mädchen, auf das ich seit Wochen ein Auge geworfen hatte. Sie war nicht nur die mit Abstand hübscheste aus dem Kurs, sondern auch amerikanische Austauschschülerin, was den Reiz noch einmal steigerte.

So standen wir irgendwann alle vorm „Commander“ und ich überlegte ewig, wie ich sie zur Mitfahrt mit mir anregen könnte. Hatte aber nicht die Eier, einfach den Mund aufzumachen und zu fragen. Bis sie mich dann überraschend fragte und ich lässig zusagte. Nur nichts anmerken lassen. In meinem jugendlichen Leichtsinn setzte ich noch einen drauf und wollte uns salopp eine Gondel reservieren. Sprang somit auf den noch fahrenden „Commander“, eine Gondel erwischte mich mit voller Wucht und ich Dussel flog einmal quer übers Fahrgeschäft. Der Daumen war angeknackst, die Birne schepperte. Bloß nichts anmerken lassen. Sie war völlig besorgt und ich tat so, als hätte mir das nichts ausgemacht. Die folgende Fahrt war dann ein wirres Durcheinander aus Schmerz, Euphorie und Drehwurm. Einen Tag später waren wir zusammen. Die Narbe am Daumen ist noch heute sichtbar und unvergänglich, genau wie die Erinnerung an den Freimarkt 1993.

Freimarkt der Gegenwart – zwischen Retro und Moderne

Inzwischen hat man sich daran gewöhnt, dass das Chillige von damals nicht mehr zieht und man Besuchern jedes Jahr noch schnellere Attraktionen mit noch mehr Umdrehungen anbieten muss. So hat es mich in diesem Jahr förmlich überrascht, dass etliche Fahrgeschäfte aus den Achtzigern wiederauferstanden waren. Retro auf dem Freimarkt, wer hätte das gedacht? Neben den Klassikern „Breakdance No. 2“ (1987), „Musikexpress“ (1977) und „Rotor“ (1969), die noch immer regelmäßig als Publikumsmagnete auftreten, waren die Dunkelachterbahn „Black Hole“ (1986), der „Hexentanz“ (1983), der Katastrophen-Simulator „Psycho“ (1984) und auch die Antik-Rutsche „Toboggan“ (1907) wieder mit dabei. Ebenso die „Himalaya-Bahn“, die inzwischen „Alpina-Bahn“ heißt. Oder die „Geisterschlucht“, die zum „Daemonium“ umgebaut wurde.

Neu hinzugekommen ist der emporragende und sich drehende Aussichtsturm „Alex Airport“, um in Ruhe den Blick über den Markt zu genießen. Die alte Chillness scheint also doch noch nicht ausgestorben. „Cheech und Chong“ hätten ihre Freude am diesjährigen Freimarkt gehabt und sich in 81 Metern Höhe ihr Tütchen gedreht. Aber auch wer es schneller und härter wollte, wurde beim „Gladiator“ fündig: Ein 62 Meter hoher Überschlag, der sich auch noch um die eigene Achse dreht. Ansonsten dasselbe Spiel wie in jedem Jahr. Ziemlich voll, grell und laut. Mit einem Zwanziger kommt man heute auch nicht mehr so weit, der wäre nämlich nach zwei Karussellfahrten, einer Eistüte und einem Becher Glühwein schon aufgebraucht gewesen.

Fazit – Ein Leben Freimarkt zwischen hellen Lichtern und etwas Schatten

Waren die bunten Karusselle für mich als Kind noch der Hauptgrund für einen Freimarktsbesuch, so zieht es mich heutzutage eher der Erinnerung wegen jedes Jahr dorthin. Oder um mich mal wieder zu sozialisieren und Leute aus der Vergangenheit wiederzutreffen, was ja auch ganz spaßig sein kann. Nebenbei lassen sich auch gerne ein paar Trottel beobachten, die sich volltrunken für unverwüstlich halten und wenig später aus der Gondel kotzen. Das kommt mir dann irgendwie bekannt vor. Besonders skurril wird es auch, wenn Firmen mit ihren Mitarbeitern gemeinsam hingehen und geschlossen auftreten müssen. Man sieht sie oft dort stehen, wo Wein und Bier zu anspruchsloser Musik ausgeschenkt werden. Kleine Grüppchen an trüben Gestalten, die nach ein paar Gläsern den Humor entdecken und der erstbesten Kollegin an den Hintern grapschen.

So vermischt sich heute irgendwie alles. Der soziale Verfall, der seit Jahrzehnten die Umgangsformen verändert und nicht nur am vielen Unrat erkennbar ist, der achtlos überall hingeworfen wird. Vermischt sich Stumpfsinn, der ebenfalls salonfähig wurde und den Zeitgeist wie schimmeliges Brot befällt. Denn sich vorzugsweise auf dem Freimarkt die Kante zu geben und anschließend in der Masse zu Gassenhauern bis zum Erbrechen mitzugrölen – zählt nicht gerade zur feinen englischen Art. Provokant ausgedrückt, könnte der Freimarkt auch heute noch reizvoll wie einst sein, sofern man keine Besucher mehr auf den Festplatz lässt. Aber wie Milliardärstrampel Trump schon treffend sagte: „Deal with it!“ – es ist sinnfrei, sich über Dinge aufzuregen, die man eh nicht ändern kann. Dann lieber das Beste aus der Situation machen und versuchen, den Freimarkt so wie früher zu erleben. Als traditionelles Großereignis im Oktober, das man mit allen Sinnen spüren und erleben kann.

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Autor: Dirk

Als Kind der späten Siebziger schreibt Dirk über all die Dinge, die sich in den letzten 30 Jahren für ihn verändert haben. Dabei kramt er nicht nur alte Computer- und Videospiele wieder hervor, sondern untersucht auch die alltäglichen Dinge des Daseins. Seine zentrale Frage beschäftigt sich damit, warum gewisse Dinge der Kindheit und Jugend später einen besonderen Status erhalten.

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