Sound der Achtziger – Electro-Funk im Schmelztiegel vieler Strömungen

Über die Musik der Achtziger kann man ja viel sagen. Der Sound war grell, trashig, weichgespült, aber auch brachial, roh und kantig. Im Vergleich zu heute war der Sound der Achtziger aber eines sicherlich nicht, nämlich langweilig. In kaum einem anderen Jahrzehnt haben sich so viele unterschiedliche und auch diametrale Musikrichtungen gebildet, die zwischen Subkultur und Mainstream pendelten und nebeneinander existierten. Zeit für eine Rückschau in ein einflussreiches Jahrzehnt, das in jungen Jahren in Sachen Coolness mit Electro und Electro-Funk mehr zu bieten hatte als „Neue Deutsche Welle“ oder die „Polonäse Blankenese“.

Sound der frühen Achtziger - Grandmaster Flash & the Furious Five

Sound der frühen Achtziger – Grandmaster Flash & the Furious Five

Das musikalische Vermächtnis der Siebziger

Um die Achtziger besser zu verstehen, ist ein kurzer Abstecher in die Siebziger sinnvoll. Nimmt man den Schlager mal beiseite, dann existierten hauptsächlich zwei Strömungen, die dieses Jahrzehnt dominiert haben, nämlich Rock in allen Variationen – von Hardrock, Punkrock über Progressive Rock bis hin zu Kraut- und Glamrock. Und daneben den afroamerikanischen Funk, der sich aus Soul und Jazz entwickelt hat und in den späten Siebzigern Disco mit prägte.

Und dann sind da noch die Pioniere von Kraftwerk, die nach einer experimentellen Anfangsphase recht schnell damit begannen, mit Synthesizern Musik elektronisch zu erzeugen. Synthesizer gab es zwar auch schon in den Sechzigern, aber anfangs mehr zu Wissenschafts- und Forschungszwecken. Salonfähige Musik damit zu machen war verpönt, auch kosteten die ersten Synthies so viel wie ein Einfamilienhaus. Und waren auch annähernd so groß. In den Siebzigern waren sie zwar noch immer sündhaft teuer, nichtsdestotrotz setzte Kraftwerk auf synthetisch hergestellte Klänge und erschuf unter dem neu formierten Genre Elektropop legendäre Stücke wie „Radioaktivität“, „Trans Europa Express“, „Das Model“ und „Die Roboter“. Fast genau so wichtig wie Kraftwerks Gesamtwerk ist die Wirkung auf nachfolgende Musikrichtungen, von Electro über Synthpop bis hin zu Techno findet man den Einfluss dieser noch immer aktiven Band.

Kraftwerk -Pioniere des Elektropop

Kraftwerk – Pioniere elektronischer Musik

Frühe Achtziger: Electro versus Electro-Funk

Aus dem musikalischen Nährboden der Siebziger wuchsen zwei afroamerikanische Musikstile, die in den frühen Achtzigern ihre Blütezeit hatten. Synthesizer waren inzwischen für jedermann erschwinglich, und Roland brachte 1981 den legendären „TR-808“-Drumcomputer auf den Markt. So enstand ein Sound, der starke Ähnlichkeit zu Funk, aber auch Einfluss von Kraftwerks Synthie-Sound hatte. Electro-Funk war geboren, und im Vergleich zu Electro die mit einer Geschwindigkeit um 95 BPM meist langsamere Variante – mit warmen Bässen, Synth-Flächen und ungebrochenen Beats. Typische Electro-Funk Veröffentlichungen waren zum Beispiel „Tyrone Brunson – The Smurf“ (1982), „Whodini – Underground“ (1983), „Warp 9 ‎– Light Years Away“ (1983) und „Wally Badarou ‎– Chief Inspector“ (1984).

Electro-Funk war äußerst funky, tanzbar und bis auf ein paar Ausnahmen ein geschliffen klingender Sound, den man auch gefahrlos der Schwiegermutter vorspielen konnte. Er hatte mehr Ähnlichkeit zu Disco, wohingegen Electro als roh und kantige Variante als der Urvater des modernen Hip-Hop gilt.

Der in der Regel auf gebrochenen Beats basierende Electro-Sound war oft mit sozialkritischen Raps untermalt, und der TR-808 war auch hier der Drumcomputer der Wahl, wurde aber auch durch gesamplete Funk-Breaks ergänzt. In der Geschwindigkeit pendelte Electro zwischen 100 und 125 BPM. Der Vocoder (Gerät, das natürliche Stimmen elektronisch moduliert) erlebte als ursprünglich militärisch konzipiertes Gerät der 1930er eine Renaissance in der Musik, wurden viele Electro und auch Electro-Funk Stücke mit Vocoder-Stimmen untermalt.

Um die Entstehung von Electro etwas besser zu verstehen, muss man wissen, dass in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern in US-amerikanischen Großstädten es deutlich rauer und verwahrloster als heute zuging. Ghetto-Flair und Gangs dominierten in vielen Stadtteilen das Straßenbild, besonders in New York war die Bronx berüchtigt, und kein Ort, den man abends alleine durchspazieren sollte. Ein geeigneter Nährboden, auf dem die afroamerikanischen Kultur ihren Sprechgesang pflanzen sollte.

Als Rap bezeichnet, begannen DJs in den Siebzigern damit, Funk-Platten zu scratchen und dazu politische Botschaften in Reimform zu verbreiten. Die Sugarhill Gang brachte 1980 mit „Rapper’s Delight“ eine Symbiose aus Disco, Funk und Rap heraus, die es weltweit sogar in die Charts schaffte. Und in der Bronx wuchs Joseph Saddler auf, der später als Grandmaster Flash bekannt wurde. Er gilt als einer der Urväter des Electro und Pionier des modernen DJing, machte Backspinning und Scratching populär, und mixte 1981 die Soundcollage „The Adventures of Grandmaster Flash on the Wheels of Steel“. Mit Samples von „Rappers Delight“, Queen bis hin zu „Apache“ der Incredible Bongo Band. Ein Jahr später brachte er zusammen mit den Furious Five den Erfolgs-Hit „The Message“ heraus, der das Leben im New Yorker Ghetto thematisierte.

Broken glass everywhere
People pissin‘ on the stairs, you know they just don’t care
I can’t take the smell, can’t take the noise
Got no money to move out, I guess I got no choice
Rats in the front room, roaches in the back
Junkies in the alley with a baseball bat
I tried to get away but I couldn’t get far
‚Cause a man with a tow truck repossessed my car

Grandmaster Flash – The Message (1982)

Ein weiterer Pionier und Kind der Bronx ist Afrika Bambaataa, der selber aktives Mitglied einer Straßengang war. 1982 brachte er „Planet Rock“ heraus, mit einer markanten TR-808-Bassline und Samples von Kraftwerks „Trans Europa Express“ und „Numbers“. Zu dieser Zeit begann Electro sich zu ändern und entfernte sich zunehmend von Funk-Einflüssen, die man z. B. von der Sugarhill Gang, Kurtis Blow oder dem West Street Mob kannte.

Grob gesagt begann Electro sich in zwei Richtungen weiterentwickeln. Einmal in das, was später als Hip-Hop bekannt wurde. Mit minimalem Einsatz von Synth-Sounds, dafür mit Fokus auf Rap. Und dann in eine Variante mit wenig bis gar keinem Sprechgesang, aber reichlich Einsatz von gebrochenen Beats, Synthesizern und Vocodern. Diese Form erlebte dann auch in den Neunzigern im Techno-Bereich wieder eine kleine Renaissance. 

Electro war bis Mitte der Achtziger auch der Sound, der bei uns im von selbstgemachten musikalischen Katastrophen geplagten Deutschland als Breakdance bekannt wurde. Dabei war Breakdance nie Musikrichtung und ist eigentlich ein Tanzstil, der bereits in den frühen Siebzigern als alternative Ausdrucksform zur Straßengewalt im New Yorker Ghetto entstanden ist.

Wie dem auch sei, der Tanz passte immerhin gut zum Sound, und so lässt es sich auch erklären, dass in den deutschen Medien zu jener Zeit selten von Electro, dafür meist von „Breakdance“ die Rede war. Seit 1985 existiert auf Jahrmärkten auch das bekannte Fahrgeschäft „Breakdance No.1“, das zu der Zeit auch tatsächlich überwiegend diesen Sound zur Fahrt abgespielt hat. Lustigerweise ist das Karussell noch heute ein beliebter Treffpunkt der Jugend und hat Namen und die typische Bemalung mit Grandmaster Flash und anderen Ikonen von damals beibehalten – und das, obwohl wahrscheinlich kein Teenie damit wirklich etwas anfangen kann.

Bekannte Electro-Stücke waren „Pack Jam“ der Jonzun Crew (1982), „Al-Naafiysh (The Soul)“ von Hashim (1983), „Breaker’s Revenge“ von Arthur Baker (1984) und „One For The Treble“ von Davy DMX (1985). Im Gegensatz dazu formierte sich die deutlich langsamere Variante immer mehr zum Hip-Hop. Sie wurde ab 1984 von Künstlern und Bands wie Run DMC, den Fat Boys, Mantronix und L.L. Cool J geprägt. In den späteren Achtzigern waren es dann Public Enemy, N.W.A., Ice-T und weitere, die dem Hip-Hop dann das Gangsta-Image aufgedrückt haben.

Ich erinnere mich gut, dass wir damals die Gangsta-Entwicklung des Hip-Hop als besonders cool empfanden und in den Schulpausen die neuesten Gangsta-CDs untereinander tauschten. Aus heutiger Sicht würde ich eher sagen, dass gerade durch diese Entwicklung ein Großteil der frühen Hip-Hop-Coolness verloren gegangen ist.

So zählt für mich das Debütalbum „The Fat Boys“ (1984) der gleichnamigen Rapper mit zu den besten Alben, die zu jener Zeit entstanden sind. Die drei übergewichtigen Rapper verdanken ihren Bandnamen angeblich dem Manager, der sich über ihre Essgewohnheiten amüsiert hatte. Besonders sympathisch wurden die drei Dicken durch ihre Texte, die nie gewaltverherrlichend waren oder sich mit den üblichen Gangster-Klischees befassten. Bei den Fat Boys ging es primär um Party, Frauen und natürlich viel Essen. Darren Robinson war „The Human Beatbox“, der einzigartige Beats mit dem Mund produzierte und dem Sound eine individuelle Note gab. Er starb bereits 1995 im Alter von nur 28 Jahren.

The Fat Boys (1984)

The Fat Boys (1984)

Ab Mitte der Achtziger wurde es um Electro dann kontinuierlich ruhiger, viele andere elektronische Musikrichtungen entstanden, von New Beat über Industrial und Acid House bis hin zu Detroit Techno. Aber auch im nicht elektronischen Bereich war das musikalische Spektrum weiterhin enorm. Und Electro sowie Electro-Funk sollten Ende der Achtziger das Zeitliche segnen. Glücklicherweise existiert ihr Vermächtnis weiter. Im Hip-Hop, Big Beat, Techno und anderen Genres. Was auf jeden Fall bleibt, ist die Erinnerung an den coolsten Sound dieser Zeit.

In the mix: Rough Kut Edges – Volume 3

Passend zur Reise in die Achtziger der zugehörige Mix. Von Electro über Electro-Funk bis hin zu Synthpop und einer kleinen Prise Neunziger. Eine Auswahl an Stücken, die mir alle in guter Erinnerung geblieben sind und nichts vom alten Charme verloren haben.

  1. Eric B. & Rakim – Paid In Full [4th & Broadway 1987]
  2. The Buggles – Inner City [Carrere 1981]
  3. Captain Rock – Cosmic Blast [NIA 1984]
  4. World’s Famous Supreme Team – Misery (Loves Company) [Charisma 1986]
  5. Fat Boys – Fat Boys [Sutra 1984]
  6. Billy Idol – Flesh For Fantasy (Below The Belt Mix) [Chrysalis 1984]
  7. Grandmaster Flash & The Furious Five – New York New York [Sugar Hill 1983]
  8. Whodini – Underground [Jive 1983]
  9. Tears For Fears – Shout (US Remix) [Mercury 1985]
  10. The Chemical Brothers – Playground for a Wedgeless Firm [F.Dust 1995]
  11. Hector Zazou – M’Pasi Ya M’Pamba (Remix) [Crammed Discs 1983]
  12. Shango – Shango Message [Celluloid 1983]
  13. Mantronix – Needle To The Groove [Sleeping Bag 1985]
  14. Grace Jones – Slave To The Rhythm (Blooded) [Island 1985]
  15. Hardfloor – Ain’t Nuttin‘ But A Format Thang [Harthouse 1997]
  16. West Street Mob – Sing A Simple Song [Sugar Hill 1982]

Autorenbild

Autor: Paul Katz

Paul Katz schreibt über alles, was mit elektronischer Musik von gestern zu tun hat. Die Jugend in den frühen Neunzigern verbracht, kaufte er sich zwei Turntables plus Mixer, allerlei Techno- und Trance-Vinyl und experimentierte fleißig herum. Mangels Zeit und vor allem Erfolg hing er sein Hobby wenige Jahre später an den Nagel, verkaufte das gesamte Equipment und widmete sich den Beats vorerst nur noch als Zuhörer. Bis ihn 2013 das Retro-Fieber packte und er heute wieder aktiv mixt und produziert.

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